Sonntag, 8. Dezember 2019

Heimat und Entschleunigung

Nun sind wir also bereits über 10 Monate in Westafrika zu Hause - ja, tatsächlich, ich schreibe "zu Hause" - es ist ein bisschen Heimat geworden - vieles ist gewohnt oder man hat sich daran gewöhnt - Nestbau, auch hier in Conakry, der hässlichsten Hauptstadt der Welt, wie es uns ein Freund vor unserer Ausreise schmackhaft gemacht hat...Doch was macht Heimat aus? Für mich ist es ganz einfach: da, wo man sich angenommen und geliebt fühlt, wertgeschätzt, willkommen halt. Und so will und kann ich damit leben, dass ich an verschiedenen Orten auf der Welt zu Hause bin - in der Schweiz bei meinen Kindern und Familie und Freunden und hier in Guinea bei unseren neugewonnenen Freunden. Die guineischen Nachbarn sind mir ans Herz gewachsen, die vielen Kinder, grosse und vor allem die Kleinen, die Mütter mit den Babys am Rücken. Alle sie wärmen mein Herz, wenn sie mir begegnen. Immer ein freundliches Grüssen, ein Nachfragen nach der Gesundheit und der Familie. Hier ist niemand in Eile und kreuzt meinen Weg nicht mit einem Tunnelblick, im Gegenteil - trotz viel Anstrengung und Arbeit, die der Alltag hier für alle bringt, alle haben Zeit für einen kurzen Schwatz.
Wenn jemand in Eile ist, dann bin ich das - schnell schnell noch einkaufen, aber das funktioniert nicht: als ich vor Kurzem wirklich in Zeitdruck und mit einer langen noch "to do List" in meine Einkaufsboutique ging, war die ganze Belegschaft gerade am Reis essen und das am Boden sitzend beim Eingang - keine Chance, irgendwie in den Laden zu gelangen. So hiess es also für mich, Zähne zusammenbeissen und überlegen, wie ich diese Situation auch ohne innerlichen Wutanfall bewältigen könnte. Zu meinem Glück zahlte sich dann aus, dass ich bereits "best friend" mit dem Ladenchef bin - er spürte wohl mein Dilemma und bot mir seine Hilfe an: er meinte, er könne ja schon mal mit Quittung schreiben beginnen. Da ich gut schweizerisch einen Einkaufszettel geschrieben hatte, konnte ich ihm vorlesen, was ich dann nachher kaufen möchte. Quittung schreiben dauert doch eine Weile, jedes Produkt einzeln aufschreiben - aber zuerst noch den Block suchen, dann den Kugelschreiber suchen, der dann aber nicht schreibt - im Laden eine neue Schachtel mit Kulis suchen und dann kann es beginnen. Nach der Quittungsschreiberei war dann der Reistopf auch leer, und so konnte mit dem Zusammensuchen meiner gewünschten Produkte begonnen werden. Nur: die Oliven, die Madame möchte, diejenigen ohne Steine, sind nicht vorhanden - also der "Petit" oder Lehrling wird losgeschickt in die Nachbarläden, um "olives dénoyautées" zu suchen. Die er dann auch findet - nur der Preis ist natürlich anders, als derjenige, der bereits auf der vorgeschriebenen Quittung steht. Im letzten Augenblick konnte ich verhindern, dass die ganze Prozedur mit neuer Quittungsschreibung wieder von vorne beginnt - weil durchstreichen ist hier nicht vorgesehen... wir einigten uns dann auf den bereits aufgeschriebenen Preis zu meinen Gunsten. Entschleunigung würde das wohl im Westen heissen - wo es auch ausgeschriebene, teure Kurse und Seminare gibt, um Entschleunigung zu lernen. Hier in Afrika ist das gratis und täglich zu haben - für mich als effizient und organisiert denkender Mensch eine Lebensschule.
Noch zurück zum Einkauf: seit ungefähr 6 Monaten bekomme ich immer nach jedem Einkauf ein gekühltes Tonic geschenkt, weil der Ladenchef sehr schnell gemerkt hat, dass es das Lieblingsgetränk von Madame ist. Und dies ist bei dieser Hitze in der ungekühlten Boutique und 90 % Luftfeuchtigkeit ein lebensrettendes Detail. Ah ja, und noch dies: der Stempel "payé" war auch verschwunden - so nahm er nach  Suchen den Stempel "non payé" und strich das "non" wieder durch.............